In beinahe jeder meiner Elternbildungs-Veranstaltungen und in herausragend vielen Beratungsgesprächen bringen Eltern recht verzweifelt ihr Dilemma „mein Kind trödelt“ zum Ausdruck. Vor allem frühmorgens prallen hier Welten verschiedener Bedürfnisse aufeinander. Eltern, die pünktlich kommen müssen – Kinder, die im Moment versunken sind. Wie immer im Zusammenleben mit Kindern, nimmt auch hier das Wissen über die kindliche Entwicklung einen gewissen Leidensdruck, darum dieser Blogbeitrag zur Entwicklung des kindlichen Zeitgefühls für euch:

Das klein-kindliche Gehirn

Für Erwachsene ist das Wissen um die Zeit selbstverständlich und wir kommen kaum auf die Idee, dass dieses Wissen nicht immer und jedem zur Verfügung steht. Das klein-kindliche Gehirn ist aber von seiner Ausreifung her noch gar nicht in der Lage durch zeitliche Dimensionen zu switchen. Wie alles in unserer Entwicklung, ist auch das kein Zufall sondern hat gute Gründe: Kleine Kinder lernen beinahe ununterbrochen, das Gehirn nutzt seine Ressourcen für alle Erfahrungen im Hier und Jetzt.  Erst im Alter von ca. drei Jahren erkennen wir eine erste vage (!) Ahnung von Zeit und ab ungefähr Grundschulalter – wenn dem Kind schon zahlreiche Erfahrungen verfügbar sind und die Uhr gelernt wird, sind ihm relativ (!) konkrete Zeitvorstellungen möglich. Aber auch wenn wir ab jetzt von einem kindlichen Zeitgefühl sprechen können: Kinder brauchen die Möglichkeit diese neu erworbene Fähigkeit auch zu erproben. Die Erwartung, dass sie ab Schulalter im Umgang mit der Zeit immer zuverlässlich sind, ist unrealistisch.

Fluch oder Segen? Wofür wir uns entscheiden.

Für Erwachsene kann das einerseits ein Segen sein – ersparen sie sich doch teure Achtsamkeits-Workshops in denen gelernt wird , die Gedankenstürme – die zum Unglücklich-Sein, zu Schlafstörungen, zu psychischen Erkrankungen etc. führen  – wieder aus  Vergangenheit und Zukunft ins Hier und Jetzt zu führen. Wer kleine Kinder hat und sich darauf einlässt, lernt wieder zu staunen, Achtsamkeit im Alltäglichen zu leben und die Welt mit Entdeckergeist zu erfahren.
Andererseits kann uns die tiefenentspannte Art und Weise, wie unser Kind das Frühstück akribisch untersucht, wenn wir pünktlich aus dem Haus müssen, auch schier zum Verzweifeln bringen.
Eltern, die um die Entwicklung ihres Kindes und sein schlichtes Unvermögen zum Zeitverständnis wissen, ersparen sich und ihren Kindern oft wahre Dramen, wenn sie Unmögliches gar nicht erwarten. Wie zum Beispiel: „Wir müssen gleich weg, spiel schnell fertig.“ Wie auch immer „schnell fertigspielen“ funktionieren sollte. In ihrer Verzweiflung wird dann oft schon eine Stunde vorher darauf hingewiesen „wir müssen gleich weg“ und das dann alle zehn Minuten wiederholt, in der Hoffnung, das Kind wüsste jetzt eh, dass wir „dann“ starten müssen. Damit erschweren wir unserem Kind aber nur die Lernerfahrung zu machen was denn „gleich“ bedeutet.

Unerfüllbare Erwartungen

Wir sollten uns also von den Kleinsten nicht erwarten, dass sie kooperieren und sich beeilen um nicht zu spät zu sein – es gibt nur den gegenwärtigen Moment für sie und der ist vollgepackt mit Entwicklungsinhalten und Lernreizen, die wir oft gar nicht wahrnehmen können.
Eltern die es sich in dieser Entwicklungsphase „leicht machen“ ohne unerfüllbare Erwartungen ans Kind zu stellen, die sich befreien von der Angst „Wenn es das jetzt nicht lernt, wie soll es dann jemals in der Schule klar kommen?“ haben es nicht nur einfacher – sie sind auch ein Segen für ihre Kinder. Wie es die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Simone Wissing in ihrer Studie „Das Zeitbewusstsein des Kindes‟ formuliert,  führt Zeitdruck zu „Pedantrie, mechanisch-fremdgesteuerter Lebensführung und innerer Unfreiheit”.
Besser helfen wir dem Kind – freundlich statt verärgert – sich fertig zu machen, halten im Falle auch den Unmut, den das unweigerlich mit sich bringen kann (wenn das Kind gerade wesentlich Wichtigeres zu tun hat) aus, bleiben freundlich, bestimmt und zuversichtlich.

Wenn die Nerven brach liegen

Und wenn wir dann doch einmal die Nerven verloren haben, dürfen wir mit bestem Gewissen auch uns selbst freundlich zugestehen: Auch wir Eltern sind nur Menschen.
Zudem eignet sich so eine Situation auch bestens um die emotionale Entwicklung unseres Kindes zu stärken, indem wir ihm zeigen, dass auch Mama/Papa Gefühle haben die sich nicht so gut anfühlen.

Jedes Gefühl ist in Ordnung – aber nicht jedes Verhalten

Statt Gefühle wie Ärger, Wut, Trauer zu verstecken, helfen wir dem Kind dabei mit seinen eigenen Gefühlen kompetent umzugehen, indem wir  darüber sprechen und gemeinsam überlegen, wie wir unseren Frust anders regulieren könnten. Vielleicht durch einen gemeinsamen Wut-Tanz samt Kriegsgeschrei in der Diele oder ein Wett-Brüllen in den Wutpolster oder ein kleines Rennen dreimal um den Küchentisch? Finden wir heraus, was unsere Stresshormone wieder herunterfahren kann.

Den Terminkalender entrümpeln

Kinder brauchen freies, ungeplantes, nicht zielgerichtetes Spiel. Aber schon die Kleinen im Kindergarten haben oft einen dichten Wochenplan, da bleibt kaum Raum für „echte“ Entwicklung. Es ist ein Paradox unserer Zeit, dass wir um unsere Kinder zu fördern (Ballett, Fechten, Musikalische Früherziehung, u.v.m.) in Wahrheit ihre Entwicklung hemmen.
Gehen wir runter vom Gas, erlauben uns Zeiten der Muße, fürchten wir uns nicht vor ungeplanter Zeit. Damit eröffnen wir nicht nur Entwicklungsräume, zugleich bringen wir auch etwas Entlastung in unser Dilemma mit dem noch nicht vorhandenen kindlichen Zeitgefühl.

Wir „haben“ kein Leben. Wir „leben“.

Lassen wir uns also entführen in die magischen gegenwärtigen Momente unserer Kinder.
Denn, auch wenn wir denken, wir „hätten“ ein Leben – wir „haben“ keines. Wir „leben“. Bestenfalls. Leben können wir nicht besitzen, wir können es nur  – im gegenwärtigen Moment – leben.
Wenn wir uns nur um die Zukunft sorgen oder auch glauben, dass es „dann, wenn …“ viel besser sein wird, wenn wir nur der Vergangenheit nachtrauern oder mit ihr hadern – dann „leben“ wir nicht wirklich, sondern wir leben nur in Gedanken.
Zu einem SINNvollen Leben  gehört aber ein Leben „mit allen SINNen“ (riechen , schmecken, hören, tasten, sehen) dazu und das geht nur im Augenblick. Kinder sind ExpertInnen darin – lassen wir uns von ihnen verzaubern.

 

Interview
„Entdeckung der Zeit“

Zu unseren Möglichkeiten
Kinder in der Entwicklung ihres Zeitgefühls
gut zu begleiten

Die Entwicklung des kindlichen Zeitgefühls

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