Ein Kind erhält ein Bild über sich selbst erst über die Haltung seiner Hauptbezugspersonen ihm gegenüber. Die Art und Weise, wie die Eltern das Kind sehen, mit welchen Vorstellungen, Wünschen und Emotionen – dieses Bild vom Kind – ist entscheidend dafür, welches Selbstbild es aufbauen wird. Die Entwicklung des Selbst steht in enger Verbindung zur Affektspiegelung, die zugleich zentral für eine gesunde Ausbildung von emotionaler Kompetenz und Mentalisierungsfähigkeit ist.

Mentalisierung – Was ist das?

Die Fähigkeit, das eigene Verhalten und das der Mitmenschen zu beurteilen, dabei Vorstellungen und mentale Aktivitäten wie Gefühle, Vermutungen, Hoffnungen, Überzeugungen, Absichten, Wünsche, etc. einzubeziehen und zu interpretieren, wird Mentalisierung genannt.

Es geht dabei also um eine Art emotionaler Kompetenz, die einem ermöglicht zu verstehen und mitunter auch vorherzusehen wie und warum ein Mensch auf eine gewisse Weise agiert oder agieren wird. Zugleich eröffnet einem diese Fähigkeit die Möglichkeit über das eigene Denken und Verhalten und die eigenen mentalen Zustände zu reflektieren.

Wer mentalisieren kann, ist also nicht „nur“ empathiefähig, sondern kann auch gut „nach innen schauen“, sich selbst beobachten.

Die Möglichkeit zu mentalisieren ist nicht automatisch von Beginn eines Menschenlebens an gegeben und muss sich erst entwickeln. Die Theory-of-Mind-Forschung beschäftigt sich mit der Entwicklungspsychologie der Theorie of Mind – also der Fähigkeit zu mentalisieren.

Kann mein Kind mentalisieren?

Eine recht bekannte Forschungsanordnung, die False-Belief-Aufgabe aus dem Jahre 1983, mit deren Hilfe der Entwicklungsstand der Theory of Mind eines Kindes untersucht werden kann, stammt von Heinz Wimmer und Josef Perner:

Kindern wird eine Keksdose gezeigt und sie werden gefragt welchen Inhalt sie darin vermuten. Alle Kinder denken, dass Kekse in der Keksdose sind. Statt der Kekse entdecken sie dann aber Buntstifte. Auf die Frage, was sie denken, dass Andere in der Dose vermuten werden, antworten Kinder, die noch keine Mentalisierungsfähigkeit entwickelt haben „Buntstifte“. Ihr Wissen – nämlich, dass Stifte in der Dose sind –  ist nun Realität und sie verfügen noch nicht über die Vorstellungskraft, dass diese Realität sich noch nicht jedem erschlossen hat. Sie können sich zudem noch nicht vorstellen, dass es falsche Überzeugungen gibt. Auf die Frage, was sie vorher geglaubt haben, was in der Dose wäre, kommt auch prompt die Antwort: „Stifte“

Erst wenn die Vorstellung eines anderen als falsch erkannt werden kann, erst wenn die eigene Meinung als unabhängig von der eines anderen bestehen kann, ist die Theory of Mind laut der ToM-Forschung entwickelt. (Wimmer, Perner 1983)

Angelehnt an die Theory-of-Mind-Forschung entstand in den 1990er Jahren das Mentalisierungskonzept. Peter Fonagy, Mary Target und ihr Forscherteam gehen davon aus, dass sich eine Theory of Mind nicht automatisch entwickelt, wie sich zum Beispiel die Nervenbahnen ab einem gewissen Alter vernetzen um ein bewusstes Harnlassen zu ermöglichen, sondern dass es sich hier um eine Fähigkeit handelt, die über soziale Interaktionen erworben werden muss.

Die Rolle der Eltern

Die Eltern beziehungsweise die Hauptbezugspersonen ermöglichen über eine gelungene Affektregulierung des Säuglings und Kleinkindes, dessen Entwicklung eines gesunden Selbst und damit auch den Erwerb der Fähigkeit zu mentalisieren.

Möglichst prägnant auf den Punkt gebracht ist die Rolle der Eltern darin zu sehen, dem Säugling beziehungsweise kleinen Kind entsprechende Reaktionen auf seine Äußerungen und sein Verhalten anzubieten, um ihm damit eine zunehmende Sicherheit in der  Wahrnehmung und Zuordnung seiner noch unklaren Empfindungen und inneren Verfassung zu ermöglichen – dies ist sozusagen der Bausatz der Mentalisierung.

Es geht somit darum die Gefühle des Kindes zu spiegeln.

Die Affektspiegelungstheorie

Gergely und Watson beschreiben in ihrer Affektspiegelungstheorie  den Vorgang in dessen Folge aus noch unbewussten Empfindungen (primary awareness) bewusste Emotionen werden. In Folge ist es möglich Affektzustände nicht nur wahrzunehmen und einzuordnen, sondern auch zu regulieren.

Dabei wird die Affektspiegelung mit dem Biofeedback-Trainingsverfahren verglichen:

  • Es gibt einen Monitor (Mimik, Stimme, Gestik der Mutter beziehungsweise Bezugsperson) auf dem das innere Bild (Bsp.: Ein dem Säugling unbewusster Gefühlszustand wie Hunger, Angst, etc.) projiziert wird.
  • Dadurch, dass innere bisher nicht sichtbare Bilder nun außen repräsentiert werden (Bsp.: Säugling hat Hunger und quengelt – Mutter runzelt die Stirn und spricht mit betont kummervoller beruhigender Stimme), können damit zusammenhängende Körpervorgänge zunehmend beeinflusst werden.
  • Nach ausreichender Übungszeit, wird der Monitor (Bsp.: Mutters Stimme, Mimik, Gestik, etc.) nicht mehr benötigt um innere Vorgänge wahrnehmen, zuordnen und regulieren zu können. Das Kind erkennt nun also im besten Falle seinen Gefühlszustand selbst und kennt Strategien ihn zu regulieren.

Die Bausteine der Mentalisierung

Die Affektspiegelung läuft über die drei Merkmale Markierung, referentielle Entkopplung und Verankerung  ab, auf die ich im Folgenden näher eingehen werde. Diese Bausteine der Mentalisierung wirken zustandsregulierend: Der Säugling lernt dadurch zum einen seine eigene Gefühlswelt kennen, und zum anderen erlebt er auf diese Weise seine Möglichkeiten auf sein Lebensumfeld direkten Einfluss auszuüben, was eine Voraussetzung für die Ausbildung von Selbstwirksamkeit darstellt. (Volger 2008)

  • Markierung
    Die von den Eltern gespiegelten Affekte des Säuglings tragen das Merkmal der Markiertheit. Das bedeutet, dass die Gefühle in ausgesprochen übertriebener Art gespiegelt werden (übertriebene Stimmlage, Mimik, Gestik). Dadurch merkt das Kind, dass es sich hier nicht um die Gefühle der Eltern handelt, sondern, dass es um ihn und seine Empfindungen geht und hat somit eine Möglichkeit diese zu entdecken. (Volger 2008)

Interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang die sogenannte Ammensprache, die ein weltweites Phänomen darstellt. Überall auf der Welt sprechen Mütter auf eine ganz besondere übertriebene Art und Weise. Neben dem Effekt der Sprachförderung, dient die Ammensprache der Affektspiegelung. (Frick 2009)

Im Rahmen meiner Workshops und Vorträge zu verschiedenen erziehungsrelevanten Themen, ermutige ich junge Mütter dazu, von Beginn an handlungsbegleitend zu sprechen und auch ihrem natürlichen Drang zur Ammensprache nachzugeben. Oft ist diese, sobald das Baby da ist, scheinbar per Knopfdruck aktiviert und die jungen Eltern sprechen mit hoher Stimme, auffallender Betonung und Mimik mit ihrem Kind. Vielen aber ist es zum Teil auch unangenehm, wenn sie dabei erwischt werden – sie verhalten sich instinktiv auf diese Art und Weise und wissen gar nicht welchen Wert dieses Verhalten für die Entwicklung ihres Kindes hat. Ich bewege mich hier ausdrücklich im Kontext  des  Verhaltens gegenüber Säuglingen und Kleinkindern, und meine nicht die Eltern, die ihren 11-jährigen Sohn fragen ob er noch ein „Schnitzi“ möchte. In einem Workshop stellte eine junge Mutter die Frage, ob es denn wirklich stimmen würde, dass diese Art zu sprechen, dem Kind schadet. Sie hätte gelesen, Babysprache führe zur Verblödung und auch in ihrem (noch kinderlosen) Bekanntenkreis würde sie deswegen aufgezogen und geneckt werden. Im präventiven Bereich, beim Bereitstellen von wissenschaftlichen Informationen für Eltern (auch werdende), sehe ich an dieser Stelle noch großes Potential, das über gezielte Elternbildungsangebote genutzt werden sollte.

Im Kontext einer gelungenen Markierung ist noch hinzuzufügen, dass die Bezugsperson nur Affekte spiegeln kann, die sie wahrnimmt. Mehrere Aspekte sind hier relevant, zum Beispiel kommt auch hier  wieder das innere Bild der Mutter von ihrem Kind zu tragen, je nachdem wie sie ihr Kind wahrnimmt, wird sie ihm begegnen.  Wird in einem anderen Fall das Gefühl des Kindes nicht kongruent gespiegelt, weil die Bezugsperson zum Beispiel ganz andere, eigene Gefühle wahrnimmt (Bsp.: Kleines Kind in der Sandkiste ist müde, Mutter nimmt wahr, dass es sich einsam und von den anderen Kindern ausgeschlossen fühlt), kommt es auf Dauer zur Verzerrung der Selbstwahrnehmung.  (Vgl. Volger 2008)

Erwähnt werden sollte auch, dass traumatisierte Eltern durch das Verhalten ihrer Kinder getriggert werden können. In der Psychoanalyse als „Geister im Kinderzimmer“ bezeichnet, kann dies viele Verhaltensweisen der Eltern verursachen, von Gewalttätigkeit bis hin zum Ignorieren der kindlichen Bedürfnisse.

Eine gelungene Affektspiegelung ist meist erst nach Aufarbeitung der unverarbeiteten und emotional abgespalteten schmerzlichen Erlebnisse möglich. (Brisch 2010)

  • Entkopplung
    Durch die Übertriebenheit der Markierung und dadurch, dass das gespiegelte Gefühl keine Folgen zeigt (Bsp.: Mutter spiegelt Trauer mit Stimmlage, Mimik, Gestik sehr übertrieben – weint aber nicht), erkennt der Säugling, dass das Gefühl der Bezugsperson als-ob-Qualität hat, nicht echt ist und nicht zu ihr gehört. Er kann das Gefühl von der Mutter abkoppeln, es kommt zur referentiellen Entkopplung.

Ist die Mutter nicht fähig sich und ihr Kind als zwei Personen zu erkennen, wird sie sich im Beispiel des weinenden Kindes selbst überwältigt fühlen und den Affekt somit nicht markiert sondern realistisch spiegeln. Dem Säugling ist dadurch der Prozess der Entkoppelung nicht möglich.

  • Verankerung
    Sobald der markierte Affekt entkoppelt wurde, ist es dem Säugling möglich ihn auf sich selbst zu beziehen und zu erkennen, dass dieser Affekt seinen eigenen Zustand darstellt. Dieser Lernvorgang, indem der Säugling erkennt, dass die gespiegelten Affekte seine eigenen – bisher noch nicht zuordenbare – Signale sind, wird in der Affektspiegelungstheorie referenzielle Verankerung genannt. (Volger 2008)

Wir spiegeln aber nicht nur  die Affekte unserer Babys – in zum Teil verändertem Setting (Bsp. über das Rollenspiel) spiegeln wir bis zur Erreichung der Mentalisierungsfähigkeit (+/- 5 Jahre) und darüber hinaus. Über welche verschiedenen Phasen die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit abläuft und was das mit nicht-teilen-können, Angst-vor-den-Monstern-unterm Bett, unsichtbaren Freunden u.v.m. zu tun hat, ist eine andere Geschichte 🙂

Lest dazu gerne in meinen Beitrag „Wenn plötzlich Monster unterm Kinderbett wohnen“ auf meinefamilie.at rein.

Veranstaltungsüberblick

Literatur:

  • Brisch, K. H. (2010): SAFE – Sichere Ausbildung für Eltern. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E., Target, M. (2008): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Dritte Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Fonagy, P., Target, M., Gergely, G., u. a. (2002): Neubewertung der Entwicklung der Affektregulation vor dem Hintergrund von Winnicotts Konzept des „falschen Selbst“. Psyche Sonderheft Jg. 65, Heft 9/10: Entwicklungsforschung, Bindungstheorie, Lebenszyklus, S. 839-862.
  • Wimmer, H., Perner., J. (1983): Beliefs about beliefs: Representation and constrainingfunction of wrong beliefs in young children’s understanding of deception. 
  • Frick, E. (2009): Psychosomatische Anthropologie. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für Unterricht und Studium. Stuttgart: Kohlhammer GmbH.
  • Volger, I. (2008): Veränderung der Kinder beginnt in der Seele der Eltern. Theoretische Grundlagen tiefenpsychologischer Erziehungsberatung. In: KLEINE TEXTE – Aus dem evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung, Berlin. Nr. 52. Vollständig überarbeitet und aktualisierte Fassung des Artikels: Volger, I. (2005): Bilder werden Wirklichkeit. Theoretische Grundlagen tiefenpsychologisch-orientierter Erziehungsberatung. In: Reuser, Bodo/Nitsch, Roman/Hundsalz, A. (Hg.): Die Macht der Gefühle. Affekte und Emotionen im Prozess von Erziehungsberatung und Therapie. München: 157 – 174.
Bausteine der Mentalisierung

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4 Gedanken zu „Bausteine der Mentalisierung

  1. Hallo Iris,
    ich habe den Beitrag mit großen Interesse gelesen.

    Dadurch haben sich mir neue Blickwinkel eröffnet und ich habe auch Hintergründe in Bezug auf meine eigene soziale Prägung erkannt.

    Danke, dass du dir die Arbeit machst und solche Informationen zusammen trägst.

    Viele Grüße,
    Conni von muttersprach.de

  2. Liebe Iris, ich habe diesen Beitrag Sehr sehr interessant gefunden ich werde diesen vielen anderen zum lesen
    empfehlen! Vielen Dank für deinen Engagement Lg Paola

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